Wilma’s freie Geburt

Ich dachte schon am Vorabend, es könnte etwas Fruchtwasser abgegangen sein. Bin dann mit Jonna ins Bett und verspürte leichte Senkwehen. Um 23 Uhr ging ich noch das Interview von Daughters of Time schauen, nachdem ich mehrere Wochen alles gemieden habe. TV, Instagram, Facebook. Es hat mich abgelenkt. Aber dieses Interview interessierte mich. Schrieb dann noch einer Freundin, es sei alles ruhig hier. Um Mitternacht ging ich wieder ins Bett, nachdem ich etwas Durchfall hatte. Hab mir nichts dabei gedacht. Um 01.45 erwache ich wieder, muss wieder zur Toilette und als ich aufstehe, eindeutig Fruchtwasser, welches meine Hosen nässt. Irgendwie bin ich nun doch überrascht, es gab so keine Anzeichen die Tage vorher, weder körperlich noch seelisch. Das einzige, was ich wahrgenommen habe, dass ich die letzten zwei Nächte so unglaublich heiss hatte. Sogar die dünne Decke war mir zu heiss.

Da meine Hebamme gesagt hat, beim dritten Kind könne es manchmal lange so nicht recht losgehen, dachte ich noch, dass das vermutlich noch ein paar Tage so gehen könnte. Da ich nun doch ein wenig aufgeregt bin und gerade nicht wieder schlafen kann, mache ich Tee, ziehe Periodenslips an wegen dem  immer ein wenig rinnenden Fruchtwasser, gehe mehrmals zur Toilette, der Darm entleert sich. Hole das von meiner Schwester genähte Noschi und binde es unter dem Pyjama um den Bauch, damit es nach der Geburt nach mir riecht. Esse eine Banane. Schreibe in den Chat der Frauen, welche mit mir das Mother Blessing feierten, dass die ersten Anzeichen der Geburt da seien. Habe ein leichtes Ziehen im Unterleib, etwa alle 5 Minuten.

Die Geburt beginnt.

Ich entzünde die Geburtskerze, lege im „Geburtszimmer“ alles bereit. Es ist Jonnas Zimmer, sie schläft selig im Familienbett. Ich lege mich auf ihr Bett, stehe ca. alle 20 Minuten auf, um die Wehen zu veratmen. Im Liegen sind sie unangenehm. Um 4 Uhr morgens überkommt mich plötzlich eine Angst. Mein Herz klopft. Ich spreche es laut aus, dass da eine Angst ist. Der Gedanke an die Geburt an sich macht mir gerade Angst. Ich spreche es aus, halte mein Herz. Es beruhigt sich. Die Wehen kommen immer noch alle 20-30 Minuten.

Geburtskerze und Frauenkraft

Ich richte mich auf dem Bett so ein, dass ich meine Brust erhöht hinlegen kann, damit das Becken frei ist. Dann muss ich nicht mehr aufstehen, wenn eine Wehe kommt. Ich bin nämlich müde. Ich spüre, wie sich die Knochen des Beckens bewegen. Meine Beine zittern. Es ist `7 Uhr. Das Zittern der Beine ist für mich eigentlich ein Signal, dass es vorangeht und bald die Presswehen kommen. Doch die Wehen kommen in so grossen Abständen, dass ich nicht daran glaube, dass da schon bald das Baby kommt.

Eine halbe Stunde später stehen Jonna und mein Mann auf. Jonna kommt ins Zimmer, sie schaut mich ganz aufgeregt an, als ich sage, ich hätte Wehen. Sie rennt aus dem Zimmer zu meinem Mann und ruft: „S’Mami hed Wehe, ech go ned i Chendsgi!“

Ich würde gerne noch etwas dösen, muss dann aber auf die Toilette. Mein Mann kommt hoch, er hat schon mitten in der Nacht bemerkt, dass ich vermutlich Wehen habe. Von den ersten zwei Geburten weiss er, dass ich ihn rufe, wenn ich ihn brauche. Ich entscheide, warm zu baden, um zu schauen, ob die Wehen gehen oder bleiben, da sie immer noch in sehr grossen Abständen kommen. Zwar sind sie inzwischen etwas stärker, aber immer noch sehr gut mit wenig Konzentration zu veratmen. Mein Mann versorgt die Kinder, und stellt  ihnen den Fernseher an. Ich bin froh, wenn sie nicht zu mir kommen, ich fühle mich abgelenkt durch ihre Fragen.

07.50. Ich bin im warmen Wasser, die Wehen werden sofort intensiver und häufiger. Das Wasser tut gut, aber es ist sehr heiss im Badezimmer. Reto kommt ins Bad, setzt sich zu mir und reicht mir abwechslungsweise einen kalten Lappen oder kaltes Wasser. Wir sprechen nicht. Er sitzt einfach da und ich vertöne nun jede Wehe. Irgendwie ist mir die Badewanne zu eng. Immer wieder überlege ich, rauszugehen, auch weil mir so heiss ist. Ich bleibe trotzdem. Die Wehen werden stärker, mein Tönen lauter. Nach kurzer Zeit in der Badewanne muss ich erbrechen. Eigentlich, zusammen mit den zittrigen Beinen, ein Zeichen bei mir für die Übergangsphase. Dennoch fühle ich noch keinen Druck vaginal, geschweige denn Presswehen. Mir ist unwohl, ich suche eine passende Position. Irgendwann lege ich auf die Seite, den Arm über den Badewannenrand gehängt. Jetzt spüre ich, wie das Baby sich nach unten stösst mit den Füssen. Ich hab das Gefühl, es klemme etwas zu im Beckenboden, kann mich nicht so gut öffnen, kann mich dem Druck nicht hingeben, mir ist immer noch irgendwie unwohl. Da ich denke, es gehe noch länger, sage ich Reto, er solle doch die Hebamme holen. Ich merke, dass ich nicht alleine sein will im Bad und habe die Sorge, dass er bald zu den Kindern schauen muss und ich dann alleine wäre. Er sagt sowas wie  „Meinst du? Ich glaube nicht…“ Jedenfalls ruft er sie nicht und bleibt bei mir sitzen. Für mich passt das und einige Minuten später bin ich mit dem zunehmenden Druck beschäftigt, dass ich nicht mehr an die Hebamme denke. Ich habe das Gefühl, dass da Presswehen kommen, bin aber noch nicht sicher. Sie sind sehr schwach.

Ich setze mich wieder auf, knie mich im Wasser hin. Nun habe ich eindeutige Presswehen. Kurz denke ich, dass es mir zu schnell geht, dass ich mich so dem Druck nicht hingeben kann. Ich fühle, wie der Kopf durch den Muttermund gleitet und dann gleich wieder zurück. Das Signal an mich, dass ich mich mehr nach unten öffnen darf. Dann blitzt die Erinnerung daran auf, was meine Hebamme gesagt hat. „Brems den Kopf, damit das Baby nicht so rausschiesst wie beim letzten Mal😊“. Also tue ich. Ich lege meine Hand an die Vulva und gebe Druck in Richtung Kopf, welcher noch nicht zu spüren ist. Währenddessen spreche ich laut mit dem Baby (und mir😊) und wiederhole immer wieder die Worte: „Laangsaam, Platz, Raum, Loslassen, Raum…“

Ich spüre, wie das Baby stösst, rede mit ihm, bitte es, langsam zu stossen. Es funktioniert. Der Druck ist nun vollkommen erträglich, ich kann mich hingeben. Schon habe ich das Gefühl, ich hätte keine Presswehen mehr. Doch sie sind ganz sanft, von aussen nicht sicht- oder hörbar. Ich wiederhole immer wieder meine Worte, ich spüre den Kopf runterrutschen, bis das Brennen bei der Harnröhre, der Ring of Fire, eindeutig anzeigt, dass der Kopf geboren wird. Ganz langsam schiebt sich der Kopf über den Damm. Ein unglaubliches Gefühl und so erstaunlich, wie gut es auszuhalten ist, dieses Mal. Bei der zweiten Geburt, bei Mattis, hatte ich den Impuls, stark nachzuschieben, damit dieser Druck und diese Empfindung möglichst rasch vorbeigeht. Dieses Mal ist es ganz anders. Ich weiss noch, dass ich einige Tage vor der Geburt gelesen habe, dass der Körper einer Frau auch in der Lage ist, zu gebären, wenn die Frau querschnittgelähmt ist. Es also keinerlei „Mithilfe“ braucht. Und so lasse ich die Presswehen geschehen und mache einfach nichts. Eine wundersame Erfahrung und Empfindung ist das. Wie sanft die Wehen sind und langsam das Baby vorangleitet. Mein Mann sagte nach der Geburt, dass er dachte, ich hätte keine Wehen mehr, weil ich so nichts mehr von mir gab und ganz ruhig war. Nur meine Hand an der Vulva. Bis er ein leises „Stöhnen“ von mir hörte und das Köpfchen sah.

Doch auch bei dieser Geburt ist es eine wunderbare Erleichterung, als das Köpfchen draussen ist. Meine Hand ist immer noch am Kopf, er fühlt sich sehr glitschig an, es hat eine „Glückshaube“. Mein Mann tastet ebenfalls das Köpfchen, fühlt auch die glitschige Haut der Fruchtblase, die sich dann rasch zurückzieht. Dann spüren wir die Härchen und die Fontanelle. Wir warten auf die nächste Wehe. Es geht lange. Mein Mann meint danach, es seien mindestens 3-5 Minuten gewesen. Meine Aufmerksamkeit ist ganz beim Baby, ob es sich bewegt, merke aber nichts. Eigentlich drehen sie sich in diesem Moment ja, damit dann die Schulter geboren werden kann. Viele Frauen spüren das auch. So werde ich etwas ungeduldig, die Hand immer noch am Köpfchen. Endlich kommt die nächste Wehe, ein ganz sanfter Druck und der Körper rutscht nach. Reto gibt dem Baby einen Stups und so gleitet es vor mir hoch. Ich ziehe es rasch auf dem Wasser und nehme es auf die Brust. Es schreit sofort und zappelt. Wird in meinem Arm aber gleich wieder ruhig. Ich bin sooo unglaublich erleichtert, dass unser Baby auf den ersten Blick einfach so gesund und lebendig ist. Ich fühle eine unglaublich tiefe Dankbarkeit dafür. Ich bin ganz aufgeregt und rufe meinem Mann zu „Hol die Kinder, hol die Kinder!“

09.02 Uhr.

Wenige Minuten auf dieser Erde.

Die Kinder stehen im Bad. Ganz aufgeregt. Sie haben das Baby schon gehört. Mattis schaut sich das Baby kurz an, macht etwas grosse Augen und sagt dann: „Ech go weder go Färnseh luege!“ und rennt davon. Jonna bleibt da, ganz fasziniert. Irgendwann geht sie kurz runter, schaltet ihrem Bruder den TV aus und kommt mit ihm wieder hoch. Jetzt ist er schon etwas interessierter. Wir raten, ob es wohl ein Mädchen oder ein Junge ist. Jonna ist die Einzige, die auf ein Mädchen tippt. Reto und ich sind uns sicher, dass es ein Junge sein muss, so gross und schwer wie es ist. Eher wie Mattis, als wie Jonna damals. Also schauen wir nach und sehen, dass da ein Mädchen zu uns gekommen ist! Wir sagen den Kindern, dass zwei Namen zur Verfügung stehen, Rheia und Wilma. Die Kinder und Reto sind sich einig, dass ihr Name Wilma sein wird. Ich zögere noch, Rheia würde mir schon sehr gefallen. Wir warten mit der definitiven Entscheidung.

Immer wieder überraschend, wie gut es einem sofort geht, kaum ist das Kind da. Zagg, taucht man von einer Sekunde auf die andere aus der Geburtstrance auf. Ich bleibe noch im Wasser, denke, dass die Plazenta bald kommt. Irgendwann wird es kühl und wir zügeln ins Bett. Alles etwas umständlich, da die Nabelschnur noch intakt ist. Ich möchte sie nicht durchschneiden, bis die Plazenta da ist. Ich möchte mir die Möglichkeit einer Lotusgeburt offen lassen.

Starke Wehen kommen und gehen, die Plazenta möchte noch nicht kommen. Die Wehen sind so stark inzwischen, dass ich sie wieder vertönen muss. Wilma (ja, der Name ist entschieden😊) trinkt zum ersten Mal an der Brust, sie kann es sofort und schluckt fleissig. Sie liegt bei mir auf der Brust. Nach 1.5h ist die Plazenta immer noch nicht da. Ich wechsle die Position, knie mich hin, war schon auf der Toilette. Reto und die Kinder sitzen vor dem Bett, plaudern und lachen, sprechen über die Geburt. Ich muss mich konzentrieren, die Nachwehen sind nicht gerade sanft. Irgendwann schicke ich sie raus, da die Wehen zu stark sind und es mich ablenkt, das unbeschwerte Lachen und Spielen der Kinder. Reto geht mit den Kindern nach unten und macht Mittagessen. Spaghetti und Salat.

Die Plazenta ist immer noch nicht da und nach knapp zwei Stunden werde ich langsam ungeduldig. Vor allem die starken Wehen machen mich ungeduldig. Stillen, Positionswechsel, Toilette, nichts scheint zu helfen. Ich rufe meine Hebamme an, ob sie noch eine Idee hat. Sie ist überrascht, ist Wilma schon da, freut sich. Sie ist der Meinung, dass die Plazenta nun kommen müsse. Sie gibt mir einige Tipps und sagt, sie komme vorbei. Als sie unterwegs ist, kommt die Plazenta dann doch. Phuu. Mit etwas Druck auf den Bauch und leichtem Zug an der Nabelschnur. Ich bin so froh. Die Wehen waren stärker als während der Geburt.

Ich gehe ins Bad, wasche mir das Blut etwas von den Beinen und ziehe Binden an. Wilma liegt auf dem Bett, ganz ruhig, immer noch verbunden mit ihrer Plazenta. Wie sehr ich mir das gewünscht habe. Alles in meiner Zeit, in meinem Zuhause, Zeit, mir Gedanken zur Plazenta zu machen, das Kind nicht zu waschen, nicht anzukleiden, alles in unseren vier Wänden, mit unseren Decken, unserem Geruch. So normal, so schön.

Regula kommt. Ich freue mich sehr, sie zu sehen. Wir plaudern, sie zeigt den Kindern Wilmas Nestli der letzten 40 Wochen. In den Eihäuten befindet sich ein grosser Blutklumpen, welcher laut Regula vermutlich die starken Nachwehen ausgelöst hat. Reto und Jonna suchen ein Geschenksbändeli, Reto schneidet die Nabelschnur durch und so erhält Wilma statt eine Nabelklemme, ein wunderschönes, pinkiges Geschenksband um den Nabel. Gewogen und gemessen wird Wilma erst am nächsten Tag.

Nabelschnur

In den ersten Tagen merke ich, dass ich gerne meine Ruhe habe. Ich habe einen starken Impuls danach, alleine mit Wilma zu sein, zu liegen, zu schlafen. Gerade Jonna ist sehr ungeduldig, sie möchte Wilma halten, baden, anziehen und sowieso würde ich mich viel besser um das Baby als um sie kümmern. Sie ist sehr frustiert. Ich kann es verstehen. Dann hat sie sich so gefreut und dann ist gerade nichts, wie sie sich das vorgestellt hat. Viel Freude und viel Traurigkeit ist da.

Wir werden verwöhnt mit gutem Essen, meine Mutter ist oft da und kocht, meine Schwestern und Freundinnen bringen Essen vorbei. Ganze 5 Wochen lang kochen wir kein einziges Mal selbst, das erstaunt mich doch etwas, ein Geschenk. Reto hat 6 Wochen „frei“, mit Schulferien und Vaterschaftszeit. Corona besucht uns drei Wochen nach der Geburt auch noch, gottseidank milde.

In meinem dritten Wochenbett konnte ich die Zeit endlich so geniessen, wie ich mir ein Wochenbett immer gewünscht habe. Und wie es gedacht wäre. Ich habe ganze 5 Wochen lang nur im Pyjama verbracht. War nie einkaufen, hab nicht gekocht und nicht geputzt. Die meiste Zeit auf dem Sofa gelegen, gestillt, geschlafen, Spiele gespielt, mit den Kindern gemalt. Auch hatten wir C-bedingt kaum Besuch. Draussen war es so kalt und grau, dass es auch gar nicht schade war, nicht draussen zu sein.

Wochenbett

Noch vor einem Jahr habe ich auf Instagram die Posts von Antonia Unger und Freya Kellet gelesen. Ich liebe Geburt. Ich hatte schon vor unseren Kindern eine Zuneigung zu diesem Thema. Habe mir immer eine Hausgeburt gewünscht, aber nicht recht den Mut und das Wissen gefunden. Nach unserem zweiten Kind dachte ich, das wars. Es waren schöne Geburtserlebnisse und dennoch sehnte sich etwas in mir nach einer ungestörten Hausgeburt. Dass ich nun mit Wilma eine so schöne, selbstbestimmte und ruhige Alleingeburt erleben durfte, wir alle gesund sind, ist nicht selbstverständlich, ein grosses Geschenk.

Und doch ist die Natur, der Körper, darauf ausgelegt. Der Körper, die Frau, das Baby, die Natur kann Geburt. Wir dürfen vertrauen.


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